Irrtümer rund um die Multiple Sklerose
„Mit MS landet man im Rollstuhl“ oder „Mit MS ist eine Schwangerschaft ausgeschlossen“ – das sind nur zwei von vielen Irrtümern, die rund um die MS kursieren. Wir räumen mit den verbreiteten Behauptungen auf und sorgen für Klarheit – mit unserer neuen Reihe: Irrtümer rund um Multiple Sklerose.
Irrtum Nr. 1: Multiple Sklerose ist Vererbbar
Die genauen Ursachen für Multiple Sklerose sind bis heute nicht bekannt. Dennoch vermuten Wissenschaftler ein Zusammenwirken von Umwelteinflüssen und genetischer Veranlagung.
In der europäischen Gesamtbevölkerung liegt das Risiko, eine MS zu entwickeln, bei etwa 0,1 Prozent, d.h. jeder tausendste Einwohner erkrankt im Laufe seines Lebens an MS. In Studien mit Zwillingen zeigte sich, dass ein eineiiger Zwilling eines MS-Betroffenen, der dieselben Gene besitzt, ein etwa 25 prozentiges Risiko trägt, ebenfalls von Multipler Sklerose betroffen zu sein.
Bei Kindern von MS-Betroffenen hingegen liegt das Risiko bei etwa 3 Prozent und ist somit gegenüber der europäischen Gesamtbevölkerung rund 30-fach erhöht. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass eine 97 prozentige Chance besteht, keine MS zu bekommen.
Deshalb kann bei Multipler Sklerose nicht von einer „echten“ Erbkrankheit gesprochen werden. Vielmehr muss man von einer durch Umweltfaktoren verursachten Erkrankung sprechen, die Menschen betrifft, deren MS-Empfänglichkeit genetisch bedingt ist. Um welche Umweltfaktoren es sich genau handelt und wie der Weg der Vererbung abläuft, ist jedoch noch nicht exakt geklärt.
Irrtum Nr. 2: Multiple Sklerose = ein Leben im Rollstuhl
Die Vorstellung, dass Menschen mit MS zwangsläufig im Rollstuhl enden, ist ein falsch verbreitetes Bild. Es stammt noch aus der Zeit vor den immunmodulierenden Langzeittherapien und gilt mit jedem weiteren Fortschritt in der Behandlung mehr und mehr als überholt.
Die modernen Langzeit- und Basistherapien verhindern Schübe
und somit auch mögliche Behinderungen und Beeinträchtigungen. Um nicht nur das Auftreten von Schüben zu reduzieren, sondern ebenso das Fortschreiten der Erkrankung, sollte mit einer effektiven Therapie so früh wie möglich begonnen werden. Denn mit einer konsequenten Therapie kann der Langzeitverlauf der MS positiv beeinflusst und ein aktives Leben mit Multipler Sklerose ermöglicht werden.
Viele langjährig Betroffene greifen auf Hilfsmittel wie Gehstock, Rollstuhl oder Rollator zurück, um Kraft zu sparen und sich vor Stürzen zu schützen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Hilfsmittel verwendet werden müssen, steigt mit der Erkrankungsdauer.
Irrtum Nr. 3: Durch eine spezielle Ernährung lässt sich MS heilen
Es kursieren verschiedene Ernährungsempfehlungen für MS-Betroffene, von denen einige sogar eine Heilung versprechen. Häufig ist von einer Öl-Eiweiß-Kost zu lesen (Budwig-Diät) oder auch von Ernährungskonzepten, die teilweise extra für MS-Betroffene entwickelt wurden. Dazu zählen z. B. eine vorwiegend vegetarische Frischkost, kombiniert mit fettarmen Milchprodukten (Evers-Diät) oder eine vegetarisch orientierte, fettarme Ernährung mit einem hohen Anteil an Omega-3-Fettsäuren (Swank-Diät). Eine weitere Empfehlung lautet, die Linolsäurezufuhr zu beschränken und Nahrungsergänzungsmitteln zu sich zu nehmen (Fratzer-Diät).
Einige dieser Ernährungsformen sind ausgewogen und gesund, andere zu einseitig, aufwändig oder teuer. Die Wirksamkeit dieser Ernährungsempfehlungen konnte bislang nicht wissenschaftlich bestätigt werden.
MS ist nicht durch eine bestimmte Ernährung heilbar. Studien bestätigen jedoch, dass ein gesunder Speiseplan den Verlauf der MS positiv beeinflussen kann.
Menschen mit MS sollten daher auf eine ausgewogene und gesunde Ernährung achten:
Obst, Gemüse, ungesättigte Fettsäuren, Kalzium und Ballaststoffe sind wichtig. Wer sich unsicher ist, sollte sich nicht scheuen, seinen Speiseplan mit dem Arzt, mit dem/der MS-Fachberater/in oder mit dem Aktiv mit MS Serviceteam zu besprechen.
Irrtum Nr. 4: Sport ist bei MS verboten
Früher war die Ansicht weit verbreitet, dass sich Menschen mit MS körperlich schonen und Aktivität vermeiden sollten. Grund dafür war wahrscheinlich die Besonderheit der MS, dass sich ihre Symptome bei höheren Körpertemperaturen verstärken können (sog. Uhthoff-Syndrom).
Heute dagegen weiß man, dass der gesundheitliche Nutzen von Sport bei MS nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. In zahlreichen Studien wurde nachgewiesen, dass Sport und Bewegung bei MS-Betroffenen vielfältige positive Wirkungen haben: Regelmäßiges Training hilft, die Muskelfunktion und das Gleichgewicht zu fördern. Schmerzen und Verkrampfungen können durch Bewegung und Dehnung gelindert werden. Sport wirkt Stress, Müdigkeit und Abgeschlagenheit entgegen, verbessert die geistige Leistungsfähigkeit, erhöht das Selbstwertgefühl und fördert so ganz nebenbei das allgemeine Wohlbefinden.
Sport ist daher heutzutage bei MS nicht nur erlaubt, sondern wird als Bestandteil einer gesunden Lebensführung ausdrücklich empfohlen. Dabei gilt: Gut ist, was guttut. Betroffene sollten sich nicht überanstrengen, sondern auf ihren Körper hören. Besonders geeignet sind Entspannungsübungen, wie Tai-Chi und Yoga
, oder moderate Ausdauersportarten. Auch ein allgemeines Fitness-Training unter Anleitung eines Therapeuten hilft Menschen mit MS, Beweglichkeit und Muskelkraft zu erhöhen. Wichtig aber ist, für sich die richtige Sportart zu finden – denn: Nur, wer sich mit Freude bewegt, bleibt langfristig dabei.
Irrtum Nr. 5: Man kann mit MS keine Kinder bekommen
Auch junge Paare, bei denen einer der Partner an MS erkrankt ist oder auch beide, stellen sich irgendwann die Frage nach eigenen Kindern. Ein weit verbreiteter Irrtum lässt glauben, dass dies mit MS nicht möglich ist. Doch dem ist nicht so: Auch mit MS kann man eine Familie gründen.
MS beeinträchtigt weder die Zeugungsfähigkeit noch die Gesundheit des Kindes. Die Wahrscheinlichkeit, ein gesundes Kind auf die Welt zu bringen, liegt – wie bei gesunden Frauen auch – bei 95 %. Studien zeigen sogar, dass sich eine Schwangerschaft positiv auf das Schubrisiko auswirkt und dieses verringert. Lediglich in den ersten drei Monaten nach der Geburt steigt das Schubrisiko an, anschließend sinkt es aber wieder auf das ursprüngliche Niveau zurück, wie es vor der Schwangerschaft war.
Anders als gesunde Frauen, sollten MS-Betroffene allerdings schon während der Planung einer Schwangerschaft das Gespräch mit dem Neurologen suchen, um Medikamente, die eventuell dem Baby schaden könnten, umzustellen oder auszusetzen. Wichtig ist auch, dass alle Beteiligten, wie beispielsweise der Gynäkologe oder auch die Hebamme, über die Erkrankung informiert werden.
Besonders die erste Zeit nach der Geburt kann viel Kraft und Energie kosten. Hier wäre es ideal, auf ein Netzwerk von helfenden Händen zurückgreifen zu können. Dieses kann aus Familienangehörigen, Freunden und Bekannten bestehen, aber auch von staatlicher Seite wird MS-Patienten Unterstützung angeboten.
Irrtum Nr. 6: MS macht berufsunfähig
Wenn man die Diagnose MS bekommen hat, gehen einem viele Fragen durch den Kopf. Häufig lautet eine davon: Wie geht es jetzt mit meiner Arbeitsstelle weiter? Kann ich trotz MS in meinem alten Beruf bleiben? Multiple Sklerose verläuft bei jedem Menschen unterschiedlich und wird deshalb auch „die Krankheit der 1000 Gesichter“ genannt. So verschieden wie der Verlauf sind auch die möglicherweise entstehenden Einschränkungen in Alltag und Beruf. Es ist also nicht zwangsläufig so, dass man als MS-Betroffener seine Erwerbstätigkeit aufgeben muss – viele arbeiten noch Jahrzehnte nach ihrer Diagnose in ihrem erlernten Beruf.
Einschränkungen sind dennoch möglich – ihnen kann aber mit Anpassungen der Arbeitssituation begegnet werden. So können mit dem Arbeitgeber z. B. Teilzeitarbeit, zusätzliche Pausen oder ein neues Aufgabenfeld vereinbart werden. Denkbar wäre außerdem, Arbeit von zu Hause aus zu erledigen. Ist dies nicht möglich, kann eine berufliche Neuorientierung die Chance bieten, endlich den Job zu ergreifen, der einen immer schon gereizt hat.
Allgemein gilt: Man ist nicht dazu verpflichtet, seinen Arbeitgeber über die Erkrankung zu informieren, auch nicht bei einer Bewerbung um eine neue Stelle. Außer es geht um Tätigkeiten, bei denen bestimmte krankheitsbedingte Einschränkungen oder Behinderungen für den Betroffenen oder andere zur Gefahr werden können. Ob im Berufsleben offen mit der MS umgegangen wird, ist den Betroffenen selbst überlassen.
Um möglichst lange berufstätig bleiben zu können, sollte das Tätigkeitsfeld dem persönlichen Leistungsvermögen angepasst werden. Der soziale Kontakt und die Anerkennung für am Arbeitsplatz erbrachten Leistungen können dann Stärke, Selbstvertrauen und die Kraft geben, sich der MS zu stellen.
Irrtum Nr. 7: MS geht mit Muskelschwund einher
MS – diese Buchstaben könnten auch für Muskelschwund stehen. Tatsächlich herrscht in diesem Punkt bei vielen Unklarheit. Gleichzeitig hält sich aber auch der Irrtum, dass MS-Betroffene unter anderem auch an Muskelschwund leiden. Dem ist aber nicht so.
Es gibt zwar einige Gemeinsamkeiten. Dazu zählt, dass MS und Muskelschwund sehr unterschiedliche Verläufe haben – nicht umsonst nennt man MS auch „Krankheit der tausend Gesichter“. Auch äußern sich beide schubweise und sind nach wie vor nicht heilbar. Grundsätzlich gilt aber: Es handelt sich um unterschiedliche Krankheiten: Bei der chronisch entzündlichen MS sind die Markscheiden im zentralen Nervensystem betroffen, bei den ca. 800 Formen des Muskelschwunds hingegen ist entweder der Muskel selbst erkrankt oder aber die Zellen, die die Nerven versorgen, sterben. Auch die Symptome sind verschieden. Die MS-typische Fatigue
etwa kennen Menschen mit Muskelschwund nicht. Ihre Diagnose äußert sich vielmehr in der Abnahme der Muskelmasse sowie in genereller Muskelschwäche.
Bei manchen MS-Betroffenen lassen sich dennoch Rückbildungen der Muskulatur feststellen. Grund für die Abnahme sind die MS-bedingten Funktionsstörungen der Nerven, wodurch motorische Probleme hervorgerufen werden. In einigen Fällen können diese rückgebildeten Muskeln – und darin unterscheiden sich MS und Muskelschwund – durch gezielte Übungen und Krankengymnastik wieder aufgebaut werden.
Irrtum Nr. 8: MS macht sich nur durch Schübe bemerkbar
In der Medizin versteht man unter Schub eine Verschlechterung des Krankheitsbildes. Bei der MS äußern sich akute Entzündungsherde im Gehirn und im Rückenmark durch Symptome, die nach einer Weile teilweise oder ganz abklingen können. Daher ist der Irrtum, MS mache sich nur durch Schübe bemerkbar, weit verbreitet.
Klinisch sind solche Schübe aufgrund ihres Ausmaßes gut abgrenzbar. Bei einer MRT-Untersuchung werden deutliche Narben sichtbar. Verbessern sich die während eines Schubes aufgetretenen Symptome oder bleibt ein Schub gar über längere Zeit aus, brechen viele Patienten ihre Basistherapie ab. Sie sehen keinen Grund mehr, die Therapie weiterzuverfolgen.
Schübe bilden jedoch nur die Spitze des Eisberges – die MS schläft zwischen den Schüben nicht. Viele MS-Betroffene bemerken die kleinen Veränderungen gar nicht oder ordnen sie nicht der MS zu. Ursache für derartige Veränderungen sind diffuse, chronische Entzündungen. Diese machen den Großteil des Entzündungsgeschehens aus, nicht die Schübe.
Diese diffusen Entzündungen sind auch der Grund, warum es so wichtig ist, dass MS-Betroffene die Basistherapie auch dann verfolgen, wenn keine Schübe festgestellt werden. Die Therapie ist langfristig angelegt und soll durch die Verabreichung immunmodulatorischer Substanzen Schübe hinauszögern oder verhindern. Im Vordergrund steht dabei die Sicherung der Lebensqualität – eben auch dann, wenn keine merkbaren Schübe vorliegen.
Irrtum Nr. 9: MS lässt sich durch Willenskraft heilen
Es gibt Symptome, die von Freunden oder Angehörigen gar nicht der MS zugeordnet werden. Dazu zählt beispielsweise auch Ermüdung und Schlappheit – die Fatigue. Tritt diese auf, folgen Appelle des Umfelds, man solle sich zusammenreißen und ein bisschen mehr Willen zeigen. Daher stammt auch der Irrtum, MS ließe sich durch reine Willenskraft heilen.
Als Willenskraft bezeichnet man eine starke psychische Energie – wie Entschlossenheit oder Zielstrebigkeit. Diese hilft, schwierige Aufgaben und Situationen zu bewältigen, Lastern zu widerstehen, eigene Ziele zu erreichen oder starke körperliche Strapazen auszuhalten. Mit Motivation ist Willenskraft nicht gleichzusetzen, oft können sie sich jedoch ergänzen.
Wenngleich viele von einem Zusammenhang zwischen dem Verlauf einer MS und Willenskraft überzeugt sind, steht aus medizinscher Sicht fest: Gegen Multiple Sklerose mit ihren chronischen Entzündungen im zentralen Nervensystem reicht Willenskraft nicht aus. Auch kann Willenskraft keine Heilung versprechen – gängige Therapieformen, wie die Basistherapie, längst nicht ersetzen.
Nichtsdestotrotz kann ein starker Willen im Umgang mit der Diagnose MS unterstützen. Er kann dazu beitragen, sich zu motivieren, das Leben aktiv zu gestalten und selbstbewusst mit möglichen Konfrontationen des Umfeldes umzugehen.
Irrtum Nr. 10: MS hat immer den gleichen Verlauf
Nicht umsonst wird Multiple Sklerose häufig die Krankheit mit den 1000 Gesichtern genannt. Denn neben den vielen verschiedenen Symptomen, ist auch ihr Verlauf immer unterschiedlich – je nachdem, welche Bereiche des Zentralen Nervensystems betroffen sind.
Zu Beginn der Diagnose ist der Verlauf kaum vorhersehbar. Grundsätzlich unterscheidet man aber zwischen drei Formen: schubförmig, sekundär-progredient und primär-progredient. Bei den meisten Betroffenen verläuft die MS schubförmig. Es kann jedoch auch sein, dass die Schübe irgendwann völlig ausbleiben, während sich die Symptome aber schleichend weiter verschlechtern. Dann spricht man von einem sekundär-progredienten Verlauf. Bei ca. 10-15 Prozent der Betroffenen verschlechtern sich die Symptome von Anfang an fortschreitend. Dieser Verlauf ist primär-progredient.
Es lässt sich nicht vorhersagen, wann die Symptome auftreten oder sich verschlechtern. Da die MS nicht immer den gleichen Verlauf hat, muss jeder Betroffene den Umgang mit seiner MS also individuell erlernen.