Die Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems. Vieles spricht dafür, dass es sich bei der MS um eine Autoimmunerkrankung handelt, bei der Immunzellen “versehentlich” Gehirn und Rückenmark angreifen. Wie bei anderen Autoimmunerkrankungen sind jedoch die eigentlichen Auslöser der Autoimmunreaktion noch unbekannt.
Man wusste bereits seit längerer Zeit, dass die individuelle Darmflora, auch “Mikrobiota” genannt, entscheidenden Einfluss auf die Funktion des Immunsystems ausübt. Um die Rolle der Darmbakterien bei der Entstehung der MS zu untersuchen, wählten die Wissenschaftler einen besonders viel versprechenden Ansatz: sie verglichen die Darmflora eineiiger Zwillingspaare. Selten kommt es vor, dass eine MS-Patientin oder ein MS-Patient eine eineiige Zwillingsschwester bzw. Zwillingsbruder hat. In solchen Fällen ist dann meist nur ein Zwilling an MS erkrankt, während der andere gesund ist.
Warum hat ein Zwilling MS und der andere nicht?
Dies ist ein Hinweis dafür, dass bei der Entstehung der MS andere als nur genetische Faktoren wirksam sein müssen. Im Rahmen des Kooperationsprojekts des Instituts für Klinische Neuroimmunologie am LMU-Klinikum und der Max-Planck-Institute für Neurobiologie und Biochemie wurde die Darmflora eineiiger Zwillingspaare, bei denen jeweils nur ein Zwilling an MS erkrankt ist, miteinander verglichen. Da jedes Zwillingspaar untereinander genetisch identisch ist, sollten sich auf diese Weise MS-relevante Unterschiede der Darmflora finden lassen, weil der Einfluss der menschlichen Gene auf die Darmflora bei den paarweisen Vergleichen vernachlässigt werden kann.
Dr. Lisa-Ann Gerdes und ihre Kollegen vom Institut für Klinische Neuroimmunologie rekrutierten mit Unterstützung der Deutschen Multiple Sklerose-Gesellschaft (DMSG, Landesverband Bayern und Bundesverband) deutschlandweit eine Kohorte von inzwischen mehr als 50 eineiigen Zwillingspaaren, bei denen jeweils ein Zwilling an MS erkrankt ist (Nationale Zwillingskohorte). Beim Vergleich der Darmflora gesunder und MS-erkrankter Zwillinge zeigten sich einige interessante Unterschiede.
Noch interessanter aber war die Beobachtung, dass genetisch veränderte Mäuse, die mit Darmbakterien von MS Zwillingen besiedelt wurden, häufiger eine der menschlichen MS sehr ähnliche Hirnentzündung entwickelten als Mäuse, die mit Darmbakterien gesunder Zwillinge besiedelt wurden. Damit ergeben sich nun erstmals direkte Hinweise, dass die menschliche Darmflora tatsächlich Komponenten enthält, die den Ausbruch Multipler Sklerose starten oder begünstigen. Für Prof. Dr. Reinhard Hohlfeld, Leiter des Instituts für Klinische Neuroimmunologie am LMU-Klinikum, fängt die Puzzlearbeit aber jetzt erst an: “Im nächsten Schritt müssen wir versuchen herauszufinden, wie es möglich ist, dass Darmbakterien eine Autoimmunreaktion auslösen, die letztlich zur Zerstörung von Gehirn- und Rückenmark führt. Denn erst wenn wir die Mechanismen besser verstehen, können wir sie gezielt therapeutisch beeinflussen.”
Erstmals Hinweise auf den Einfluss der Darmflora auf die Entstehung von Multiple Sklerose
„Bahnbrechende experimentelle Untersuchungen von Prof. Hartmut Wekerle und Kollegen zeigten bereits vor einigen Jahren, dass die bakterielle Darmflora (Mikrobiota) Entzündungsvorgänge im Gehirn entscheidend beeinflusst. Unsere Zwillingsstudie, wiederum in Kooperation mit Hartmut Wekerle und Gurumoorthy Krishnamoorthy vom Max Planck Institut in Martinsried, liefert nun erstmals direkte funktionelle Hinweise, dass die Darmflora bei der MS eine wichtige Rolle spielt. Diese Beobachtung berechtigt zu der Hoffnung für neue Therapieansätze”, erklärt Prof Dr. med. Reinhard Hohlfeld, Institute of Clinical Neuroimmunology Klinikum der LMU München, Campus Grosshadern und Vorsitzender des Ärztlichen Beirates der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft, Bundesverband e.V.: “Wir danken der DMSG (Bundesverband und Landesverband Bayern) für die große Unterstützung, die uns sehr dabei hilft, eineiige Zwillingspaare für unsere Studie zu gewinnen.“
Über die Studie: Es handelt sich um ein Kooperationsprojekt von Wissenschaftlern des Instituts für Klinische Neuroimmunologie (Dr. Lisa-Ann Gerdes, PD Dr. Tania Kümpfel, Prof. Reinhard Hohlfeld) und der Max-Planck-Institute für Neurobiologie und Biochemie (Prof. Hartmut Wekerle, Dr. Kerstin Berer, Dr. Gurumoorthy Krishnamoorthy).
Originalpublikation: Gut microbiota from Multiple Sclerosis patients enables spontaneous autoimmune encephalomyelitis in mice: Kerstin Berer, Lisa Ann Gerdes, Elge Cekanaviciute, Xiaoming Jia, Liang Xiao, Chuan Liu, Luisa Klotz, Uta Stauffer, Sergio E. Baranzini, Tania Kümpfel, Reinhard Hohlfeld, Gurumoorthy Krishnamoorthy, Hartmut Wekerle Proceedings of the National Academy of Sciences, 11. September 2017