Probleme mit der Psyche
Psychische Erkrankungen – auch bei Multipler Sklerose?
Die Diagnose Multiple Sklerose löst bei den meisten Menschen ein Gefühlschaos aus: Schock und Panik, Angst und Traurigkeit. Gerade die Depression gehört zu den häufigsten psychischen Erkrankungen bei der Multiplen Sklerose. Laut Studien sollen bis zu 70 Prozent der Patienten von Depressionen betroffen sein. Aber auch das Gegenteil der Depression, die Euphorie (Manie) kann in krankhaftem Ausmaß auftreten. Aufgrund der entzündungsbedingten Veränderungen können bei MS-Patienten auch verschiedene psychotische Symptome beobachtet werden.
Depressionen
Gedrückte Stimmung, ein Gefühl der Leere oder Gefühllosigkeit, anhaltendes Grübeln, Antriebsverlust, Schlafprobleme, Früherwachen, Morgentief und Gefühle von Hoffnungslosigkeit kennzeichnen das seelische Tief. Ebenso häufig treten innere Unruhe, Konzentrationsverlust, Schuldgefühle und Selbstmordgedanken auf.
Es existieren verschiedene Formen von Depressionen, zwei davon sind hier grob unterschieden.
Es gibt so genannte reaktive Depressionen, die als normale Reaktion auf einschneidende Erlebnisse auftreten. Die Mitteilung, an einer chronischen Erkrankung wie der MS zu leiden, ist eine solch massive Lebensveränderung. Ein anderes Beispiel ist der Verlust des Partners durch Trennung oder Tod. So lassen sich viele Situationen aufzählen, die Grund für eine vorübergehende Depression sein können. Eine reaktive Depression ist bei vielen Patienten zu Beginn ihrer Erkrankung zu erwarten. Im Verlauf einer MS können reaktive Depressionen wiederholt auftreten.
Anatomische Veränderungen – wie bei der MS durch die Entzündungsherde bedingt – können ebenso Ursache einer depressiven Störung sein.
Neben unterstützenden psychotherapeutischen Maßnahmen, die bei der reaktiven Form im Vordergrund stehen, gibt es verschiedene medikamentöse Ansätze. Bei leichteren bis mittelschweren Depressionen wirken sowohl hochdosierte Johanniskrautpräparate, wenn sie regelmäßig und ausreichend lange eingenommen werden, als auch klassische oder neuere Antidepressiva. Bei schweren Depressionen sollte eine medikamentöse Therapie mit den o.g. klassischen bzw. neuen Antidepressiva oder Lithium erwogen werden. Schwere Depressionen sollten nach Möglichkeit immer stationär behandelt werden. Auch in diesen Fällen sind verschiedene psychotherapeutische Verfahren neben der medikamentösen Therapie anzuwenden. Unterstützend werden in vielen Kliniken sogenannte multimodale Therapien wie z. B. Ergotherapie, verschiedene Entspannungsverfahren, Psychoedukation, Musiktherapie, Sport- und Lichttherapie angeboten.
Die Kombination aus Sport- und Lichttherapie kann sogar ähnlich antidepressiv wirksam sein wie die Einnahme von Antidepressiva. Da Depressionen mit einem erhöhten Selbstmordrisiko behaftet sind, darf keine Scheu bestehen, sich selbst oder betroffene Angehörige bei den Anzeichen einer Depressionen unbedingt einem Arzt vorzustellen. Ihr Hausarzt, Neurologe oder ein Psychiater wird Ihnen weiterhelfen.
Und schließlich verhält es sich bei der Multiplen Sklerose genauso wie bei anderen Krankheiten: Eine gute psychische Befindlichkeit beeinflusst den Verlauf der MS positiv, eine schlechte negativ. Neben dem Psychotherapeuten kann auch eine Selbsthilfegruppe eine wertvolle Hilfe darstellen.
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Euphorie & Manie
Zum traurigen Stimmungstief existiert ein Gegenbild: die Euphorie. Von den Entdeckern der Multiplen Sklerose, zu denen Jean Martin Charcot gehörte, wurde dieses Symptom noch als typisches Merkmal der Krankheit gewertet. Die Euphorie – oft verbunden mit einer auffälligen Kritiklosigkeit – tritt jedoch als Symptom im Allgemeinen bei MS-Patienten erst sehr spät auf. Man weiß heute, dass es keine wirkliche Freude ist, die von den Patienten ausgestrahlt wird. Wenn die Betroffenen – angesichts ihres Zustandes – eine eher sorgenfreie Heiterkeit an den Tag legen, so spricht dies eher für das Bestehen einer krankhaften, durch die MS organisch bedingten Stimmung.
Das Gegenbild der Depression wird auch Manie genannt. Euphorie, geringes oder fehlendes Schlafbedürfnis, Selbstüberschätzung (bis hin zum Größenwahn) und Leichtsinn, Reizbarkeit, Rücksichtslosigkeit, Antriebssteigerung, (sexuelle) Enthemmung sowie stark erhöhte Libido sind Symptome der Manie.
Auch die Manie bedarf unbedingt professioneller Behandlung. Neben Lithium werden inzwischen auch einige Antiepileptika und bestimmte Neuroleptika erfolgreich eingesetzt.
Es gibt Fälle, in denen sich im Laufe der Jahre depressive und manische Phasen abwechseln.
Weitere Erkrankungen:
Psychotische Erkrankungen
Selten treten im Verlauf der MS Psychosen auf.
So kann ein MS-Schub das Auftreten einer Psychose oder eines neuen Psychose-Schubes begünstigen. Auch Psychosen sollten wegen möglicher Eigen- oder Fremdgefährdung möglichst stationär behandelt werden.
Psychosen äußern sich z.B. durch folgende Symptome: Wahn, Halluzinationen (akustische, optische, Körperhalluzinationen etc.), Denkstörungen (z. B. Ideenflucht, Vorbeireden), Ich-Störungen (u.a. Gedankenentzug), Bewegungsverarmung.
Angststörungen
15-20% der Bevölkerung leiden unter Angststörungen. Auslöser können Trennungen, Traumatisierungen, körperliche Erkrankungen (also auch die MS), psychosoziale Probleme und andere einschneidende Lebensereignisse sein.
Angststörungen machen sich vor allem durch Schwitzen, Zittern, Engegefühl, Luftnot, Übelkeit und andere vegetative Symptome bemerkbar. Es gibt viele verschiedene Ausprägungen der Angststörung. Am bekanntesten sind die Phobien (situations- oder objektverknüpfte Angst), z.B. Platzangst, Angst vor Tieren, Höhenangst, Prüfungsangst etc.
Hier können psychotherapeutische Verfahren helfen. In akuten oder schweren Fällen sollten unterstützend Medikamente eingesetzt werden.
Mediziner führen die hohe Depressionsanfälligkeit bei MS-Kranken auf verschiedene Ursachen zurück:
- Eine Depression kann als Reaktion auf die veränderten, als schwierig empfundenen Lebensbedingungen auftreten, die die MS mit sich bringen kann – z. B. als Folge der Unsicherheit, wie es mit dem eigenen Leben weitergeht. Wissenschaftliche Untersuchungen deuten darauf hin, dass während eines MS-Schubs das Risiko für eine Depression ansteigt.
- Hirnorganische Veränderungen, ausgelöst durch die MS, tragen wahrscheinlich ebenfalls zu Depressionen bei.
- Veränderungen im Immunsystem könnten ebenfalls eine Rolle spielen.
- Einige Medikamente, die bei MS eingesetzt werden, können u. U. als unerwünschte Nebenwirkung die Entstehung einer Depression begünstigen.
Durch ihre längere Dauer und die Tiefe der Empfindungen unterscheidet sich eine Depression von depressiven Verstimmungen, aber auch von Gefühlen der Trauer und Demoralisierung. Gegenüber der bei MS häufigen Fatigue, die sich u. a. durch einen Verlust der Leistungsfähigkeit und anhaltende Müdigkeit auszeichnet, muss die Depression ebenfalls abgegrenzt werden. Zu den Symptomen einer Depression zählen Traurigkeit und Gereiztheit, Müdigkeit, mangelnde Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit, der Verlust des Interesses an Dingen des täglichen Lebens, die Unfähigkeit, Freude zu empfinden, Schlafstörungen, eine Verlangsamung des Denkens und Tuns genauso wie Gefühle der Wertlosigkeit. Viele Betroffene beschreiben die Depression als Unfähigkeit, überhaupt noch Gefühle empfinden zu können – sie fühlen sich innerlich „leer“. Kennzeichnend für eine Depression ist zudem, dass die Symptome länger als zwei Wochen andauern.
Hilfe bei Depressionen durch Medikamente und Psychotherapie
Bei Verdacht auf eine Depression sollte möglichst rasch ein Arzt aufgesucht werden. Das kann zunächst der Hausarzt sein, der bei Bedarf einen anderen Arzt oder Psychologen zurate zieht. Auch Familienmitglieder, die vermuten, ihr Angehöriger leide unter einer Depression, können einen Arzttermin vereinbaren, falls ihr Angehöriger nicht dazu in der Lage ist. Bei mittleren und schweren Depressionen ruht die Behandlung i. d. R. auf zwei Säulen: der Verordnung eines Antidepressivums einerseits und einer strukturierten Psychotherapie mit einem anerkannten Verfahren andererseits.
Zu Letzteren zählt die kognitive Verhaltenstherapie, die bei Depressionen häufig zum Einsatz kommt. Sie hat u. a. zum Ziel, gedankliche Muster zu verändern, die eine Depression begünstigen. In vielen Fällen hat sich die Kombination von Medikamenten und psychotherapeutischer Unterstützung gegenüber nur einer der beiden Maßnahmen als überlegen erwiesen.
Zwischen Antidepressiva und MS-Medikamenten sind bislang keine schweren Wechselwirkungen bekannt, sodass beide i. d. R. parallel genommen werden können. Einige Antidepressiva können u. U. einen positiven Einfluss auf MS-Symptome haben, z. B. könne trizyklische Antidepressiva mit anticholinerger Wirkung u. U. die Blasenfunktion (den Harnverhalt) bessern.
Wenn die Angst überhandnimmt
Etwa 30 % der MS-Kranken entwickeln nach Schätzungen von Hamburger Wissenschaftlern im Verlauf ihrer Erkrankung Angststörungen – abgesicherte Zahlen liegen noch nicht vor. Zu den Symptomen zählen u. a. innere Unruhe, Konzentrations- und Schlafstörungen, Herzrasen, plötzlich auftretende Panik. Spätestens wenn die Angst beginnt, das Leben zu bestimmen und die eigenen Handlungen einzuschränken, ist es Zeit, gegen sie vorzugehen. In manchen Fällen ist bei Angststörungen als Erstes eine medikamentöse Behandlung mit angstlösenden Mitteln (Anxiolytika) sinnvoll, um den Betroffenen in die Lage zu versetzen, eine Psychotherapie zu beginnen – z. B. falls es ihnen nicht möglich ist, ohne die vorherige Einnahme eines Anxiolytikums das Haus zu verlassen. Zur Weiterbehandlung hat sich u. a. die kognitive Verhaltenstherapie bewährt, die – vereinfacht gesagt – annimmt, dass Ängste auf eingefahrenen, negativen Denkmustern beruhen, die schrittweise verändert werden können.
Quelle: CURADO MS 2/2012