Vor kurzem waberte wieder die Diskussion um die Legalisierung von Cannabis (lat. für Hanf) durch die politischen Lager. Wenn sich Interessensgruppen für die Legalisierung von Cannabis aussprechen, wird in der Regel die Multiple Sklerose bemüht. Die mögliche Wirkung von Cannabis bei MS gilt dabei als wichtiges Pro-Argument. Ich möchte hier keine Diskussion darüber führen, was ich persönlich von der Legalisierung von Cannabis halte, und auch nicht darüber, ob es sinnvoll ist, Cannabis-Konsumenten zu kriminalisieren. Mir ist es aber ein Anliegen kurz auszuführen, welche Wirkungen MS-Patienten nach dem derzeitigem Stand von Cannabis(Präparaten) zu erwarten haben – vor diesem Hintergrund ergibt sich nämlich aus meiner Sicht überhaupt kein wesentlicher Mehrbedarf.
Cannabis ist die am häufigsten konsumierte illegale Droge – die Konsumenten schätzen die relaxierende (entspannende) Wirkung. Darüber hinaus ist auch eine sedierende (beruhigende) und antiemetische (Unterdrückung von Übelkeit und Brechreiz) Wirkung von Cannabis beschrieben, die sich die moderne Medizin derzeit zu Nutzen macht: Cannabispräparate werden bei Krebs- und AIDS Patienten zur Bekämpfung von Übelkeit und Appetitlosigkeit eingesetzt und besitzen hier eine unbestritten hilfreiche Wirkung.
Auch MS-Patienten berichten hin und wieder von der positiven Wirkung eines „Joints“ auf ihr Allgemeinbefinden – und, wenn vorhanden, auf eine spastische Tonuserhöhung/spastische Lähmung. Aufgrund dieser Beobachtung werden schon seit den 80iger Jahren Studien mit Cannabis bei MS durchgeführt. In der Regel wird für diese Studien eine orale Formulierung des Cannabinoids Tetrahydrocannabinol (THC) benutzt, das ein Hauptbestandteil der gepressten, harzreichen Teile der Hanfpflanze ist und vorrangig für die relaxierende, sedierende und antiemetische Wirkungen eines „Joints“ verantwortlich ist.
Eine der größten und bekanntesten Studien ist die sog. CAMS Studie, die im Jahr 2003 im renommierten Wissenschaftsmagazin „The Lancet“ von Prof. John Zajicek und Mitarbeitern veröffentlich wurde und die Wirkung von Cannabis bei immerhin über 600 Patienten in Großbritannien untersucht hat. Quintessenz der Studie war, dass kein signifikanter Unterschied zwischen den Patienten der Cannabis Gruppe und denen der Placebo Gruppe erzielt werden konnte. Die Studie war somit negativ. Dennoch kamen die Autoren zu dem Schluss, dass im Einzelfall Patienten profitiert hätten und propagierten, auch vom dem Hintergrund einer aus dem Tierexperiment vermuteten neuroprotektiven Wirkung, die weitere wissenschaftliche Bearbeitung des Themas „MS Therapie mit Cannabis“.
Daher wurde – ebenfalls in Großbritannien unter der Leitung von J. Zajicek – die sog. CUPID Studie durchgeführt, die den Effekt von Dronabinol (=THC) auf die chronisch progrediente Multiple Sklerose an fast 500 Patienten mit dieser Verlaufsform untersucht hat. Die Ergebnisse der Studie wurden 2013 in Lancet Neurology publiziert. Um es kurz zu machen – die Studie hat keinen therapeutischen Effekt von Cannabis auf die chronisch progrediente MS gezeigt. Die Hoffnung eines neuroprotektiven Effektes von Cannabis konnte somit durch diese Studie nicht belegt werden.
Beachtenswert finde ich in diesem Zusammenhang übrigens auch eine kürzlich erschienene Arbeit (Romero, Neuroimage 2015), die mit Hilfe der MRT schädliche Wirkungen von regelmäßigem Cannabiskonsum bei MS-Patienten nachgewiesen hat und über eine Zunahme kognitiver Störungen und Veränderung der grauen Substanz berichtet. Man kann also bei aller Euphorie mancher Patienten auch schädliche Wirkungen von Cannabis nicht sicher ausschließen.
Übrig bleibt somit ein möglicher antispastischer Effekt von Cannabis, der die Grundlage für die Entwicklung von Sativex® (Nabiximols) war. Dieses Cannabispräparat ist mittlerweile aufgrund positiver Studien für die Spastikbehandlung bei MS zugelassen und auf Rezept (Betäubungsmittelrezept) erhältlich. Sativex ist ein Kombinationspräparat aus THC und Cannabidiol (CBD), eines Cannabinoids, das die psychoaktiven Wirkungen von THC partiell antagonisiert. Somit ist Sativex® deutlich besser verträglich als frühere Cannabis-Präparate auf der Basis von THC bei vergleichbarer antispastischer Potenz.
Wir beobachten mit Sativex teilweise gute therapeutische Wirkungen in der Spastikbehandlung von MS-Patienten, teilweise sehen wir aber auch überhaupt keine wesentlichen Effekte. Ich sehe daher Cannabis-Präparate derzeit als eine willkommene Ergänzung der antispastischen Therapie bei MS. Sie sind aber sicherlich – auch vor dem Hintergrund der bereits verfügbaren antispastischen Therapien – kein Durchbruch.
Somit denke ich, dass die Wirkung von Cannabis auf die Multiple Sklerose eigentlich ganz gut untersucht wurde und nach derzeitigem Erkenntnisstand (aus Sicht des MS-Therapeuten) kein extrem hoher Bedarf für eine Legalisierung besteht. Wenn es um diese Frage geht, ist die Multiple Sklerose kein wirklich gutes Argument.