Immunzellen als Auslöser

Immunzellen als Auslöser von Hirnschädigungen bei Multipler Sklerose

Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen haben herausgefunden, wie Immunzellen die graue Hirnsubstanz, die Schaltzentrale des Gehirns, angreifen und zerstören. Diese Entdeckung sei für das Verständnis vor allem der Multiplen Sklerose von Bedeutung, erklären die Forscher um Prof. Dr. med. Alexander Flügel und Dr. med. Francesca Odoardi, die 2013 bereits mit dem Nachwuchspreis der Sobek-Stiftung ausgezeichnet worden ist.

Multiple Sklerose (MS) wurde lange Zeit als Erkrankung der weißen Hirnsubstanz angesehen. Doch viele Krankheitssymptome der MS lassen sich nicht durch eine alleinige Schädigung der weißen Hirnsubstanz erklären. Symptome, wie z.B. chronische Fatigue, Gedächtnisstörungen und manchmal sogar epileptische Anfälle, müssen eine andere Ursache haben. Sie weisen auf eine Schädigung der grauen Hirnsubstanz hin.

Was Hirnforscher und Neurologen lange vermuteten, ist nun klar: Bei MS wird nicht nur die weiße Gehirnsubstanz angegriffen und zerstört, sondern auch die graue. Dafür verantwortlich sind Immunzellen. Die Beobachtung der Immunzellen und gezielte Erforschung der Ursachen könnte zur Entwicklung therapeutischer Gegenstrategien führen, wie Wissenschaftler des Instituts für Neuroimmunologie und MS-Forschung der Uni-Medizin Göttingen (UMG) herausgefunden haben. Die Folge: Sie können nun Schädigungen in der grauen Hirnsubstanz erforschen.

Bislang rätselten die Forscher darüber, dass bestimmte Schädigungen in der weißen Hirnsubstanz Symptome und Auswirkungen zur Folge hatten, die nicht ins Bild passten. Sie deuteten stattdessen auch auf Schäden in der grauen Hirnsubstanz hin. Deren Teile arbeiten als Schalt- und Speicherzentrale des Gehirns. Diese MS-Symptome sind auch Gedächtnisstörungen und epileptische Anfälle, die ursächlich in der grauen Hirnsubstanz verortet sind.

 

Der neurologische Super-GAU: Angriff auf die Zentrale des Gehirns

Die Übeltäter sind Immunzellen. Sie attackieren das in Nervenzellen vorkommende Eiweiß „beta-Synuklein“, dringen gezielt in das Steuerzentrum des Gehirns ein und lösen Entzündungen aus. Dadurch werden die spezialisierten wie feingliedrigen Nervengeflechte geschädigt. Die fatale Folge: Das Gehirn schrumpft, und es kommt zu nicht reparierbaren neurologischen Ausfällen. Die Göttinger Wissenschaftler entdeckten zudem, dass solche zerstörerischen Immunzellen vor allem im Blut von Multiple Sklerose-Erkrankten mit einem fortschreitend-chronischen Verlauf vermehrt sind. Diese Erkenntnisse könnten für diagnostische oder therapeutische Aspekte bei der Multiplen Sklerose von Bedeutung sein.

Warum aber konnten diese Attacken auf die „grauen“ Zellen bisher nicht nachgewiesen werden? Prof. Flügel nennt es „eigenartig“, dass stets nur Entzündungen in weißen Gehirnsubstanzen gefunden wurden. Nicht nur für ihn blieb „ein zentrales Merkmal der Multiplen Sklerose deshalb bisher rätselhaft“. Die Ursachen der nun als tatsächlich bekannten Entzündungen und Schädigungen der grauen Hirnsubstanz blieben lange unbekannt. Nach heutigen Erkenntnissen aber sind vor allem sie für die irreparablen Schädigungen und somit das Forschreiten der MS verantwortlich. Die Göttinger Forscher jedenfalls gingen einen neuen Weg, sie untersuchten nicht Immunzellen, die Nervenummantelungen befallen und so Lähmungen als Symptome verursachen, sondern die Immunzellen, die gegen das beta-Synuklein in Nervenzellen gerichtet sind. Die Folge: Bei den Tieren traten „neuartige neurologische Krankheitszeichen auf“.

Es gab andere Schädigungen und nur den Befall grauer Hirnsubstanz, wie Dr. Francesca Odoardi vom Institut für Neuroimmunologie der UMG sagt. Die Erforschung dieser T-Zellen im menschlichen Blut könnte nun auch dazu führen, dass MS-Patienten besser über Risiken und Therapieoptionen aufgeklärt werden könnten, so die Göttinger Forscher.

Die Ergebnisse der Forschungen sind in der Februar-Ausgabe des renommierten Wissenschaftsmagazins NATURE veröffentlicht.

Originalveröffentlichung: Dmitri Lodygin, Moritz Hermann, Nils Schweingruber, Cassandra Flügel-Koch, Takashi Watanabe, Corinna Schlosser, Arianna Merlini, Henrike Körner, Hshin-Feng Chang, Henrike J. Fischer, Holger M. Reichardt, Marta Zagrebelsky, Brit Mollenhauer, Jens Frahm, Christine Stadelmann, Sebastian Kügler, Dirk Fitzner, Michael Haberl, Francesca Odoardi & Alexander Flügel. b-synuclein reactive T cells induce autoimmune CNS grey matter degeneration, Nature (2019) doi:10.1038/s41586-019-0964-2.

Ausblick

Die Beobachtungen des Göttinger Forscherteams könnten für die Behandlung der Multiplen Sklerose von Bedeutung sein. Die Möglichkeit, im Modell die autoimmune Zerstörung der grauen Hirnsubstanz nachzuvollziehen und damit systematisch untersuchen zu können, kann möglicherweise zur Entwicklung geeigneter therapeutischer Gegenstrategien genutzt werden. Zudem könnte die Erforschung der pathogenen T-Zellen im menschlichen Blut dazu führen, Patienten mit Multipler Sklerose besser über die möglichen Risiken ihrer Krankheit und geeignete Therapieoptionen aufzuklären.

Hintergrundinformationen

Die graue Hirnsubstanz, die Steuerzentrale des Gehirns Unser Gehirn funktioniert ähnlich wie ein Computer durch Weitergabe und Verarbeitung elektrischer Signale. Die graue Substanz ist die Speicher- und Verrechnungszentrale, quasi Festplatte und Prozessor in einem. Hier liegen die Nervenzellen, welche die Signale aus der Umwelt oder den Körperorganen erhalten und verarbeiten, d.h. verschalten, speichern und weiterleiten. Dadurch kann das Gehirn wesentliche Funktionen unseres Körpers steuern, wir können uns gezielt bewegen, denken, uns erinnern, fühlen und planen.

Die weiße Hirnsubstanz besteht dagegen im Wesentlichen aus den Fortsätzen der Nervenzellen, die von spezialisierten Isolationsschichten, den sogenannten Markscheiden, ummantelt sind. Diese fördern die elektrische Reizweiterleitung. Man kann die weiße Substanz des Gehirns daher am ehesten mit dem Kabelwerk im Computer vergleichen. Sie ist darauf spezialisiert, die ein- und ausgehenden Signale möglichst schnell und zielgerichtet weiterzuleiten.

Neurologische Erkrankungen können die graue wie die weiße Hirnsubstanz betreffen. Schädigungen der grauen Hirnsubstanz haben die folgenreichsten Auswirkungen, das zeigen Krankheitsbilder der Alzheimer oder Parkinson´schen Erkrankung. Bei diesen Erkrankungen gehen die Nervenzellen der grauen Substanz in bestimmten Hirnregionen zugrunde. Erkrankte verlieren im Laufe der Erkrankung, die Fähigkeit sich zu erinnern und zu denken (sogenannte Alzheimer-Demenz), oder es geht die Fähigkeit, sich koordiniert zu bewegen (sogenannte Parkinson´sche Schüttellähmung), verloren.

Die graue Hirnsubstanz ist aber auch bei der Multipler Sklerose vom Krankheitsprozess betroffen. Multiple Sklerose ist eine Erkrankung, die mit z.T. schweren fortschreitenden neurologischen Ausfällen einhergeht und vor allem Menschen in ihrem aktivsten Lebensabschnitt, dem jungen Erwachsenenalter, betrifft. Daher ist die Erkrankung nicht nur wegen der tragischen gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen, sondern auch wegen der sozioökonomischen Konsequenzen von Bedeutung.

(Quelle: PM der Universitätsmedizin Göttingen)

08.03.2019

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert