Aktuelles aus der Forschung
CCSVI – die Luft ist raus
Basierend auf einer initialen deskriptiven Studie war vor einigen Jahren die Hypothese geäußert worden, dass die Multiple Sklerose (MS) durch Stenosen der hirnentsorgenden Venen verursacht werden könnte. Diese Stenosen könnten – so die Hypothese – zu einem konsekutiven venösen Rückstau, Eisenanlagerungen im ZNS und sekundärer Inflammation führen. Diese sogenannte chronische zerebrospinale venöse Insuffizienz (CCSVI) hatte für großes Aufsehen gesorgt.
Bereits im Januar dieses Jahres war eine multizentrische Studie zur Überprüfung der diagnostischen Methoden bei CCSVI veröffentlicht worden, die verblindet an 3 Zentren durchgeführt worden war. Nach Untersuchung von 177 Patienten und Kontrollen konnte diese Studie zeigen, dass extrakranielle Venenverengungen weder bei MS-Patienten noch bei gesunden Kontrollen etwas Ungewöhnliches sind, eine familiäre Häufung nicht besteht und die CCSVI-Prävalenz bei MS nicht signifikant höher als bei den gesunden Kontrollen ist. Rezent wurden nun die Ergebnisse einer prospektiven klinischen Studie veröffentlicht. Diese Studie bestand aus 2 Phasen; der erste Teil war eine offene Sicherheitsstudie, die 10 Patienten umfasste. In der zweiten, die Wirksamkeit adressierenden Phase, wurden dann insgesamt 19 Patienten randomisiert doppelblind behandelt, wobei 10 Patienten eine Scheinbehandlung erfuhren und 9 Patienten einer Venenangioplastie unterzogen wurden.
Patienten der Studie erfüllten venöse hämodynamische Screeningkriterien, die zum Vorliegen einer CCSVI passten. Die Patienten wurden 1, 3 und 6 Monate nach der Prozedur klinisch mittels MRT und bezüglich des hämodynamischen Ergebnisses nachbeobachtet. Primäre Endpunkte waren die Sicherheit 24 Stunden und 1 Monat postprozedual, eine mehr als 75 %ige Wiederherstellung des venösen Abflusses nach 1 Monat und die Wirkung der Angioplastie auf die Läsionsaktivität und Schubrate nach 6 Monaten. Bei keinem der Patienten traten perioperative Komplikationen auf. Jedoch wurde bei einem Patienten mit bekannter Synkopenanamnese aufgrund episodischer Bradykardie die Anlage eines Herzschrittmachers notwendig. In der zweiten Phase der Studie fielen eine höhere MRI-Aktivität (kumulative Anzahl von neuen Kontrastläsionen [19 vs. 3] und neue T2-Läsionen [17 vs. 3]) sowie eine erhöhte Schubaktivität (4 vs. 1) bei den angioplastisch versorgten Patienten auf, wobei die statistischen Vergleiche lediglich Trends anzeigten. Mittels Kovarianzanalyse ließen sich kumulative neue T2-Läsionen mit Angioplastie (p = 0,01) und einer erfolgreichen venösen Abflusserweiterung (dargestellt durch eine größere Abnahme im Venen-Doppler-basierten VHISS-Score) (p = 0,028) assoziieren. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine venöse Angioplastie kurzfristig keine wirksame Behandlung bei MS ist und sogar die zugrunde liegende Krankheitsaktivität verstärken kann.
Dieser Einschätzung sollte man sich im Lichte der beiden durchgeführten Studien anschließen und seinen Patienten von einer CCSVI-Diagnostik, geschweige denn invasiven Therapie, abraten.
Relevanz der spinalen grauen Substanz für den Grad der funktionellen Behinderung
Schon seit Längerem ist bekannt, dass die Atrophie der zerebralen grauen Substanz (GM) stärker mit der klinischen Behinderung korreliert als die Atrophie der weißen Substanz (WM). Dies wurde kürzlich durch die Langzeitbeobachtung von 81 Patienten über 10 Jahre bestätigt. Ob dies analog auch für das Rückenmark gilt, war aufgrund technischer Einschränkungen bei der Beurteilung einer Atrophie der spinalen grauen Substanz bislang nicht bekannt. Mit dem Ansatz einer phasensensitiven Inversion-Recovery (PSIR) Magnetresonanztomografie wurden in einer aktuellen Studie insgesamt 113 MS-Patienten und 20 gesunde Kontrollpersonen in einem 3 Tesla MRT untersucht und die Atrophie von spinaler GM und WM mit der klinischen Behinderung, gemessen durch den EDSS, korreliert. Patienten mit schubförmiger MS hatten kleinere spinale GM-Areale als die alters- und geschlechtsangepasste Kontrollgruppe (p = 0,008), ohne signifikante Unterschiede hinsichtlich der spinalen WM-Atrophie. Patienten mit progredienter MS wiesen signifikante Atrophien sowohl der spinalen GM als auch der spinalen WM auf, verglichen mit schubförmigen MS-Patienten (p ≤ 0,004). Das Ausmaß der spinalen GM als auch der spinalen WM sowie des gesamten Myelondurchmessers waren umgekehrt korreliert zum EDSS (jeweils p ≤ 0,001). Je mehr Atrophie nachweisbar war, desto höher war also der EDSS. Dabei ließ sich die Atrophie der spinalen grauen Substanz als stärkster Faktor in einem multivariaten Modell herausarbeiten. Die Atrophie der zerebralen und spinalen GM trugen unabhängig voneinander zum Ausmaß der EDSS-Behinderung bei. Aus ihren Daten schlussfolgerten die Autoren, dass eine spinale GM-Atrophie in vivo auch bei Abwesenheit einer spinalen WM-Atrophie nachweisbar und generell bei der progredienten MS stärker ausgeprägt ist. Die spinale GM-Atrophie scheint einen stärkeren Einfluss auf die Behinderung zu haben als die zerebrale GM-Atrophie.
Durch neue Sequenzen wird es gelingen, tiefer in die spinale Gewebepathologie einzudringen als es bisher der Fall ist. Diese Arbeit leistet einen ersten Beitrag; auf dem gerade zu Ende gegangenen ECTRIMS-Kongress in Boston sind weitere Studien zu dem Thema vorgestellt worden, sodass die Entwicklung valider MRT-Surrogatmarker zur Abschätzung der Gewebeatrophie und deren klinische Implikationen gute Fortschritte macht.
UV-Licht zeigt Vitamin-D-unabhängige Wirksamkeit im Tiermodell der MS
Bekanntermaßen können Umweltfaktoren die Inzidenz der Multiplen Sklerose beeinflussen. Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass die Prävalenz der MS mit zunehmendem Breitengrad, also mit zunehmendem Abstand vom Äquator, sowohl auf der nördlichen als auch auf der südlichen Hemisphäre zunimmt. Eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen ist die mit Abstand vom Äquator abnehmende Sonneneinstrahlung insbesondere in den Wintermonaten, die dann zu einem Mangel an Vitamin D (Cholechalciferol) führt, welches in der Haut lokal unter Einfluss von UV-Licht aus endogen synthetisierten Vorläufermolekülen gebildet wird. Vitamin D wirkt immunmodulierend und ein Vitamin-D-Mangel ist mit verschiedenen Autoimmunerkrankungen assoziiert worden. Somit könnte vermehrte Sonnenlichtexposition den Vitamin-D-Spiegel steigern und protektiv in der MS wirken.
In einer rezenten Studie identifizierten die Autoren im Tiermodell darüber hinaus einen möglicherweise Vitamin-D-unabhängigen positiven Effekt von UV-Licht. Vorbehandlung mit UVB-Licht führte zu einer geringen, aber signifikanten Reduktion der klinischen und histologischen Symptome der experimentellen Autoimmunenzephalomyelitis (EAE), einem Tiermodell der MS. Der Effekt erforderte eine kontinuierliche Behandlung über den gesamten Verlauf der EAE. Die Behandlung führte ferner zu einer Zunahme der Anzahl, nicht jedoch der suppressiven Kapazität FoxP3+-regulatorischer T-Zellen (sogenannte Tregs), welche bekanntermaßen Autoimmunerkrankungen supprimieren können. Diese Treg-Zunahme wurde wiederum vermittelt durch eine Population von antigenpräsentierenden Langerhans-Zellen in der Haut, da nach Depletion von Langerhans-Zellen kein therapeutischer Effekt von UVB-Licht mehr im Tiermodell nachweisbar war. Interessanterweise führte die Behandlung mit UVB-Licht im Tiermodell nicht zu einer Zunahme der Vitamin-D-Spiegel. Dies weist darauf hin, dass UVB-Licht einen Vitamin-D-unabhängigen Effekt vermittelt, der somit auch nicht durch einfache alimentäre Substitution von Vitamin D nachzuahmen wäre. In einer kleinen humanen Kohorte untersuchten die Autoren ferner den Effekt von UVB-Licht auf Zellpopulationen im Blut von MS-Patienten. Auch hier führte die UVB-Behandlung zu einer Zunahme von FoxP3+-Tregs. Auch wenn die humanen Patienten – anders als das Tiermodell – eine Zunahme der Vitamin D-Spiegel im Serum zeigten, so identifiziert die aktuelle Studie dennoch einen interessanten potentiellen neuen Mechanismus, über den lokale UV-Lichtexposition systemische Autoimmunerkrankungen beeinflussen könnte. Eine Verhaltensempfehlung für MS-Patienten lässt sich aus dieser kleinen Pilotstudie nicht ableiten.
Die Adhäsion macht den Unterschied
Der monoklonale Antikörper Natalizumab bindet den α4-Anteil des α4β1-Integrins, und blockiert dadurch die Adhäsion und Transmigration von Lymphozyten ins ZNS. Während die Wirksamkeit von Natalizumab auf die Reduktion der MS-Schubrate hervorragend ist, wird seine Anwendbarkeit durch die in wenigen behandelten Patienten auftretende, potenziell letale Komplikation progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) limitiert. PML wird vermutlich durch eine Reaktivierung des im Körper persistierenden JC-Virus unter reduzierter „Überwachung“ des ZNS durch reduzierte Migration von Lymphozyten verursacht. Es ist somit sowohl für die Behandlung der MS als auch für das Verständnis von Immunmechanismen im ZNS im Allgemeinen interessant zu verstehen, wie eine medikamentöse Integrinblockade die Zusammensetzung des Immunzellpools im ZNS beeinflusst.
In ihrer aktuellen Studie untersuchten die Autoren eine große Kohorte von stabil mit Natalizumab behandelten MS-Patienten. Unter Behandlung mit Natalizumab zeigten die Patienten eine deutliche Zunahme von CD14+-Monozyten und eine Abnahme von CD4+-T-Zellen im Liquor. Diese T-Zellen waren anhand ihrer Oberflächenmarker als Effector-memory-Zellen zu klassifizieren; also T-Zellen, die aktiviert worden sind. T-Zellen behandelter Patienten zeigten weder im Blut noch im Liquor eine nachweisbare Oberflächenexpression des Natalizumab-Zielmoleküls α4-Integrin (CD49d), was die Autoren spekulieren ließ, dass offensichtlich unter α4-Integrin-Blockade andere Adhäsionsmoleküle die Migration ins ZNS vermitteln müssen. In der Tat zeigte das Adhäsionsmolekül P-selectin glycoprotein ligand-1 (PSGL-1) eine vermehrte Expression unter Natalizumab-Therapie, dessen Ligand vor allem auf Gefäßwandendothel im Plexus choroideus nachweisbar war. Auch das Adhäsionsmolekül MCAM, das von humanen Th17-Zellen exprimiert wird, war vermehrt auf CD4+-T-Zellen im Liquor von Natalizumab-behandelten MS-Patienten detektierbar. Somit könnte über PSGL-1 oder MCAM eine alternative, nicht α4-Integrin-abhängige Migration von bestimmten T-Zell-Populationen ins ZNS erfolgen. Dies könnte eine Grundlage für das weitere Verständnis bieten, warum die α4-Integrin Blockade für eine JC-Virus-Infektion prädisponiert.
(Quelle: T. Menge
Aus: Aktuelle Neurologie 9/14)